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31. März 1918: Tag des Völkermordes an den Aserbaidschanern

Interview mit Rızvan Huseynov, Historiker und Leiter des Zentrums für kaukasische Geschichte

Herr Rizvan Huseynov. Der 31. März wird in ganz Aserbaidschan als Gedenktag des “Völkermords an den Aserbaidschanern” mit Zeremonien  begangen. Könnten Sie uns kurz die Hintergründe erläutern, was dieses Datum im nationalen Bewusstsein des aserbaidschanischen Volkes so wichtig macht?

Während des Ersten Weltkrieges kam es an der Kaukasusfront des Osmanischen Reiches zu schweren Kämpfen zwischen osmanischen und russischen Truppen. Mit der bolschewistischen Revolution in Russland 1917, die Lenin an die Macht brachte, und dem Regimewechsel in Russland begann für den Kaukasus eine politisch sehr turbulente Zeit. Eine der Folgen der bolschewistischen Revolution war, dass die russische Armee die Kaukasusfront nicht halten konnte und sich auflöste. Mit dem Zusammenbruch kam eine Gruppe von etwa 20.000 Bewaffneten, hauptsächlich bestehend aus Daschnak-Armeniern und Bolschewiken aus der zaristischen Armee, unter dem Kommando des armenischstämmigen Stepan Schumjan nach Aserbaidschan mit dem Ziel dort ein bolschewistisches Regime zu etablieren. Hierzu wollte Shaumjan die Macht in Baku, der Hauptstadt der heutigen Republik Aserbaidschan, an sich reißen. Dieses Regime bestand hauptsächlich aus Armeniern, aber auch aus einer kleinen Anzahl von Russen und aserbaidschanischen Türken.

Eines der Hauptziele dieses Regimes war der Anschluss der erdölreichen Gebiete Aserbaidschans an das bolschewistische Russland. Unter dem Kommando Schaumjans drangen 20.000 Mann von der Kaukasusfront über Georgien und Armenien nach Aserbaidschan ein und verübten auf ihrem Weg zahlreiche Völkermorde. Zu diesem Zeitpunkt hatte Aserbaidschan noch nicht seine Unabhängigkeit erklärt und war zusammen mit Georgien und Armenien Teil der Transkaukasischen Demokratischen Föderativen Republik. Militärisch war Aserbaidschan der vorrückenden Armee hilflos ausgeliefert, und die umherziehenden armenischen Daschnak-Milizen und die irregulär vorrückenden bewaffneten bolschewistischen Gruppen nutzten die Gelegenheit, um Massaker an der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung zu verüben. Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung beschränkten sich nicht auf das Gebiet der heutigen Republik Aserbaidschan. Eine Gruppe von Milizionören, die Shaumjan unterstanden, überquerte den Fluss Aras durch Armenien und verübte in der als Südaserbaidschan bekannten Region an der Astara-Lenkaran-Linie, in der Nähe des Kaspischen Meeres, Massenverbrechen von genozidalem Ausmaß. Infolgedessen wurden Hunderte von Dörfern in ganz Aserbaidschan dem Erdboden gleichgemacht und nach offiziellen Schätzungen fast eine halbe Million Zivilisten sowohl in Nord- als auch in Südaserbaidschan massakriert.

Das Hauptziel des bolschewistischen Russlands war es, die strategisch wichtige Stadt Baku unter seinen Einfluss zu bringen. Zu diesem Zweck setzte es die armenischen Daschnak-Milizen unter dem Kommando von Schaumjan ein, um die muslimische aserbaidschanische Bevölkerung, die der bolschewistischen Herrschaft kühl gegenüberstand, aus Baku zu vertreiben. Aserbaidschan sollte sowohl als Staat als auch als Provinz dem bolschewistischen Russland unterworfen werden. Um die Kontrolle über das ganze Land zu erlangen, wurden in Baku, Lenkoran, Schamahi, Gubatli und vor allem in den aserbaidschanischen Städten und Dörfern entlang des Kaspischen Meeres grausame Massaker verübt. Zehntausende Zivilisten wurden massakriert, hunderttausende Aserbaidschaner aus ihren Häusern vertrieben. Ziel dieser ethnischen Säuberungen war es, in den entvölkerten Gebieten künftig Armenier anzusiedeln.

Als Aserbaidschan am 28. Mai seine Unabhängigkeit erklärte, nahm die junge Führung des Landes unverzüglich Kontakt mit der osmanischen Regierung auf und vereinbarte eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Eigens für die Befreiuung aserbaidschanischer Territorien vom bolschewistisch-daschnakischen Joch, wurde die islamisch-kaukasische Armee gegründet, eine nach heutigem Sprachgebrauch spezielle Eingreifstruppe. Im Eiltempo marschierte diese hastig zusammengestellte Armee aus Anatolien in Aserbaidschan ein und bereitete nach einigen Zusammenstößen den bolschewistischen und daschnakischen Milizen empfindliche Niederlagen. Rasch rückte die siegreiche islamisch-kaukasische Armee auf Baku vor und befreite die Stadt am 15. September 1918 von dem unterdrückerischen Regime Stepan Schaumjans und setzte der Marionettenregierung der bolschewistisch-daschnakischen Allianz ein Ende. Stepan Schaumjan konnte über das Kaspische Meer fliehen, wurde in den Wüsten Turkestans von den Briten gefangen genommen und wegen Kriegsverbrechen hingerichtet.

Wie haben sich die Massaker auf die aserbaidschanische Gesellschaft ausgewirkt? Wurden weitere Täter jemals vor Gericht gestellt?

Diese Ereignisse hinterließen tiefe Narben im der Seele des aserbaidschanischen Volkes. Das Vergießen von so viel Blut und die grausamen Völkermorde schärften das Bewusstsein des aserbaidschanischen Volkes und ließen es zu dem Schluss kommen, dass weder Großbritannien noch Frankreich oder das bolschewistische Russland es beschützen würden. Diese schrecklichen Erfahrungen ließen das Ideal, Aserbaidschan zu einem freien und starken Staat zu entwickeln, zu einem konkreten politischen Ziel heranreifen in dessen Folge am 28. Mai die unabhängige Republik Aserbaidschan ausgerufen und Baku, die am stärksten zerstörte Stadt, zur Hauptstadt erklärt wurde. Während der elfmonatigen Existenz der Aserbaidschanischen Volksrepublik wurde eine Kommission aus führenden Juristen des Landes gebildet, die Dokumente und Informationen über die Ereignisse vom 31. März sammelte. Die Arbeit wurde in den Regionen, in denen der Völkermord stattfand, intensiviert, es wurden Interviews mit Überlebenden der Massaker geführt, Lichtbildaufnhamen gemacht und Beweise in einem 35-bändigen Archiv gesammelt.

Am 28. April 1920 wurde die Arbeit der Kommission durch die Besetzung Aserbaidschans durch die bolschewistischen Streitkräfte unterbrochen bzw. beendet. Während des bolschewistischen Regimes wurde die Frage des Genozids nie aufgeworfen und es wurde versucht, die Beweise so weit wie möglich zu vernichten. Nach 1991, als Aserbaidschan seine Unabhängigkeit wiedererlangte, wurde die Arbeit der Aufklärungskommission wieder aufgenommen, die nach Frankreich geschmuggelten Dokumente wurden nach Aserbaidschan zurückgebracht und wichtige Studien durchgeführt.

Aus diesem Grund wurden außer Schaumjan keine der Täter des 31. März vor Gericht gestellt. Ihre Taten blieben nicht nur ungesühnt, in der Sowjetzeit erhielten die Planer und Vollstrecker des Genozids sogar hohe Positionen in der Verwaltung  – ein recht höhnischer Akt retrospektiv betrachtet.

Wie werden die Gedenkfeiern im ganzen Land durchgeführt?

Nachdem Aserbaidschan 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, wurde die Aufarbeitung der Ereignisse vom 31. März 1918 unter der Herrschaft von Heydar Aliyev forciert. Im Jahr 1998 wurde der 31. März 1918 per Parlamentsbeschluss zum offiziellen Gedenktag für den Völkermord erklärt. An diesem Tag werden in jeder Stadt offizielle Zeremonien abgehalten, Staatsoberhäupter halten öffentliche Reden, und jedes Jahr versammeln sich die Menschen um das Denkmal für den Genozid vom 31. März und gedenken derer, die bei den Ereignissen ums Leben kamen. In der Stadt Guba gibt es auch ein Völkermordmuseum. Auch hier finden besondere Veranstaltungen statt. In den Schulen findet an diesem Tag kein Unterricht statt und der 31. März wird als Tag des Völkermords  begangen.

Wie weit ist der Völkermord an den aserbaidschanischen Türken im Ausland bekannt? Welche Anstrengungen unternimmt der aserbaidschanische Staat, um diese Geschichte international bekannt zu machen?

Aserbaidschan begeht diesen wichtigen Tag mit Zeremonien nicht nur im eigenen Land, sondern auch in seinen diplomatichen Vertretungen im Ausland und lädt wichtige lokae Persönlichkeiten zu diesen Veranstaltungen ein. Darüber hinaus werden zahlreiche Artikel über die genozidalen  Ereignisse vom 31. März 1918 veröffentlicht.

Haben sich die internationalen Geschichtswissenschaften Ihrer Meinung nach ausreichend mit dem Thema beschäftigt? Was sind Ihre Erwartungen an die akademische Gemeinschaft?

Leider haben die in der westliche Forschung dem Völkermord vom 31. März 1918 nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar wurden in den USA, in ganz Europa und in Russland Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht, doch sind sie sehr spärlich gesät. Leider finden Völkermorde an Muslimen in der christlich geprägten westlichen Öffentlichkeit keine große Resonanz.

Die Verfolgung des aserbaidschanischen Volkes scheint ununterbrochen weiterzugehen. Auch die Besetzung Karabachs vor 30 Jahren und das Massaker, das die armenischen Streitkräfte in Chodschali verübten, werden im Zusammenhang mit dem 31. März begangen?

1988 kam es in der Region Karabach zu ersten ethnischen Spannungen zwischen Armeniern und aserbaidschanischen Türken, wobei die Regierung in Moskau den armenischen Separatisten ihre Unterstützung nie versagte. Die Unterstützung der Armenier erfolgte sowohl logistisch als auch in Form von Waffen und Munition, und selbst auf taktischer Ebene wurden die armenischen Kräfte unterstützt. Es ist bekannt, dass auch Russen an den Angriffen auf aserbaidschanische Dörfer beteiligt waren. Nach einiger Zeit kam es in Karabach zu Völkermorden. Am bekanntesten ist das Massaker von Chodschali am 26. Februar 1992. Vor Chodschali gab es Massaker in Karadagli, einem größeren Dorf in dieser Region. Die gewaltbelastete und unbewältigte Geschichte zu Armenien, die während der Sowjet-Ära nie aufgearbeitet wurde, trat im  kollektiven Gedächtnis der Aserbaidschaner wieder hervor. Die Tatsache, dass Armenien wieder die Partei war, die die Massaker verübte, ließ die schrecklichen Tage des Ersten Weltkriegs wieder aufleben. Aserbaidschan, das damals den armenischen Streitkräften schutzlos ausgeliefert war, befand sich Anfang der 1990er Jahre in einer Zeit der innenpolitischen Wirren und verfügte über eine schlecht organisierte, unzureichend ausgestattete und weitgehend unerfahrene Armee. Wieder schien sie wehrlos dem militanten armenischen Irredentismus ausgesetzt zu sein. Dem aserbaidschanischen Volk wurde wieder bewusst, dass es vor den Begehrlichkeiten des armenischen Nachbarn stets auf der Hut sein musste.

Die politischen Täter, die während der mehr als 30 Jahre dauernden Besetzung Karabachs Massenverbrechen begangen haben, werden nun vor der aserbaidschanischen Justiz zur Rechenschaft gezogen. Gegen wen laufen derzeit Prozesse? Was sind die internationalen rechtlichen Initiativen Aserbaidschans?

Die schnelle Niederlage Aserbaidschans und die vernichtende Niederlage der armenischen Besatzungstruppen innerhalb von 44 Tagen führten zu einem raschen Zerfall und Chaos auf Seiten der separatistischen armenischen Kräfte. Der schnelle Vormarsch der aserbaidschanischen Streitkräfte führte zur Verhaftung von Bürokraten, die an der illegalen separatistischen Führung beteiligt waren, und zur Verhaftung zahlreicher Personen, die am Völkermord in Chodschali verstrickt waren. Gleichzeitig leitete die aserbaidschanische Justiz den Ermittlungsprozess ein und konnte von den verhafteten armenischen Tätern Informationen und Beweise über die während der Besetzung Karabachs ausgehobenen Massengräber und das Schicksal aserbaidschanischer Bürger, deren Verbleib unbekannt ist, sammeln.

Die Ermittlungen sind im Gange und alle an den Massakern Beteiligten werden sich vor Gericht verantworten müssen.

Herr Huseynov, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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